Bipolar – Durch die Augen eines Islandpferdes
Bipolar – Durch die Augen eines Islandpferdes
Sie kommt mit flatternden Bewegungen. Der Wirbel im Kopf – ich erkenne die Hypomanie. Ihre Schritte klingen schnell, zu schnell für diesen stillen Morgen. Ihre Stimme ist hell, sie redet mit mir und gleichzeitig mit zwei anderen Reiterinnen, die sich fragwürdige Blicke zuwerfen. Ihre Hände streifen über mein Fell, doch sie berühren mich nicht wirklich. Ich spüre: Sie ist nicht bei mir. Ich hebe den Kopf, meine Ohren zucken. Ihre Energie fließt in mich hinein, wie zu viel Strom in eine überlastete Leitung. Ich kann nicht abschalten. Ich will folgen, doch es gibt keinen Takt, kein Ziel, keine Richtung. Alles in ihr flimmert. Ich werde nervös.
Beim Aufsteigen hält sie die Zügel unruhig. Der Druck ist kaum auszuhalten. Ihre Beine klammern, dann lassen sie los. Ich verstehe sie nicht. Hitze durchdringt mich. Schweiß rinnt mir über das Fell. Ich fange an, mich selbst zu verlieren. Ein Geräusch im Gebüsch, sonst nichts. Doch ich kann nicht mehr klar denken. Ihre Unruhe lebt jetzt in mir. Ich galoppiere an, stürme los, fliehe vor dem Chaos, das sie auf mich überträgt. Auf mir nur ihr Rufen, schrill, durchdringend, voller Verzweiflung. Ich höre es, aber ich kann nicht anhalten. Nicht jetzt. Ich – nein sie – bringt uns beide in Gefahr.
Heute ist sie langsam. Ihre Schritte versinken im Kies wie bleierne Klötze. Das Leere-Zeichen, das sie umgibt, die Depression. Kein Flattern, kein Leuchten in ihren Augen. Nur Schatten. Ihre Hand liegt auf meinem Hals, schwer wie nasser Schnee. Ich blinzle und warte auf ein Zeichen. Es kommt keines. Sie steigt auf, mechanisch, ohne Kraft. Ihr Körper ruht auf mir, doch ich kann sie nicht spüren. Ich trage sie. Langsam. Bedächtig. Jeder Schritt fühlt sich an, als würde ich durch dichten Nebel gehen, der mich nicht atmen lässt. Ich will sie spüren, sehen, ob sie noch da ist. Alles in mir ist unsicher, doch ich bleibe ruhig. Für sie.
Die Zügel hängen schlaff. Kein Impuls von ihr, der mir die Richtung aufzeigt. Ihr Gewicht lastet orientierungslos auf meinem Rücken. Ich werde zur Führerin, nicht weil ich es möchte, sondern weil ich muss. Meine Dynamik ist jetzt ihre Dynamik. Ich wähle den Weg, den einfachsten, den sichersten. Für uns beide. Manchmal sackt sie leicht mit dem Oberkörper nach vorne. Ich halte dagegen und muss das Gleichgewicht halten, für uns beide. Manchmal flüstert sie etwas. Worte ohne Klang. Ich spüre ihren Schmerz wie ein dumpfes Echo in meiner Brust. Ich trage uns weiter.
Die Luft ist anders heute. Sie lächelt, als sie kommt. Mein Gefühl sagt, sie ist lebendig. Ihre Stimme ist klar, ihr Blick hell. Ich wiehre leise zur Begrüßung. Vielleicht ist heute ein guter Tag. Vielleicht. Doch kaum sind wir unterwegs, wird ihr Blick glasig. Der Schatten zwischen uns – das Wechselspiel ihrer emotionalen Phasen. Ihre Schultern sinken, ihre Energie fällt in sich zusammen. Ich halte an. Warte. Mir fehlen die klaren Hilfen. Ihre Hand streichelt meinen Hals, dann zieht sie sich zurück, als hätte sie sich verbrannt. Ich verstehe nicht. Sie seufzt.
Wenig später redet sie wieder viel zu schnell. Erzählt mir von Dingen, die ich nicht sehen kann. Ich trabe an, unsicher. Ihr Körper folgt, dann fällt er wieder in sich zusammen. Nichts ist klar. Alles schwankt. Ich werde vorsichtig. Jeder Schritt ist ein Test, ob sie uns heute gewachsen ist. Jeder Atemzug ein Spiegel ihrer Stimmung. Ich möchte helfen, doch meine Sprache ist zu still für ihren Sturm. Also bleibe ich da. Sie weint. Ich drehe den Kopf, stupse sie leicht mit den Nüstern am Bein. Sie lächelt durch die Tränen. Für einen Moment sind wir beide nur füreinander da. Doch ich sehne mich nach der Sicherheit in meiner Herde.
Sie kommt leise. Setzt sich zu mir auf die Weide. Ohne Halfter und wie ich fühlen kann auch ohne Absicht. Ein Moment von Nähe und Akzeptanz für uns beide. Ihre Gegenwart ist sanft, aber echt und das ist genug. Nur sie in ihrer reinsten Form zum ersten Mal seit Langem. Wir ergreifen die Chance, finden einander in einem Blick und unsere Energien können sich verbinden, sie ergeben eine Synergie. Ich schnaube leise. Ihre Schultern entspannen sich. Ihre Hände ruhen offen auf ihren Knien. Ich trete näher und finde tiefe Zuneigung. Ihre Ausstrahlung ist rein und unmissverständlich klar, die Augen spiegeln unsere Verbundenheit und das Vertrauen. Sie schaut mich an, wirklich. Heute kann sie mir tief ins Herz blicken. Nicht durch mich hindurch. Heute ist Platz für mich, in ihren Gefühlen und in ihrem Verstand. Sie ist ganz bei mir.
Ihre Worte sind einfühlsam und wach. Ich strecke den Hals, berühre ihre Stirn. Sie schließt die Augen und atmet tief ein und aus. Heute braucht sie nichts von mir. Keine Leistung, keine Ausgeglichenheit. Nur meine Nähe. Ich bleibe. Weil sie bleibt. Sie sitzt im Gras. Ich stehe dicht bei ihr, kann ihren gleichmäßigen Atem hören, ihren Herzschlag. Sie streckt die Hand nach mir aus, berührt mich. Ich schließe die Augen und senke den Kopf. Die Welt ist nicht leichter geworden. Aber sie ist da. Ich auch. Und das reicht mir für diesen Moment.
Ich genieße ihn und hoffe, dass ihre Stabilität so lange wie möglich anhält. Ich brauche sie, in dieser Beständigkeit. Obwohl ich weiß, dass es nicht anhalten wird, dass es vergänglich ist. Ich sauge diesen Augenblick in mich auf. Wer weiß, wann er wieder kommt und wie lange er bleiben wird.
Persönlicher Nachklang
Wenn ich diese Art von Texten veröffentliche, denke ich lange darüber nach: Sie zeigen eine verletzliche Seite meiner Persönlichkeit, die ich viele Jahre verborgen hielt. Meine bipolare Störung wurde spät erkannt. Darum stehe ich bis heute in einem ambivalenten Verhältnis zu Medikamenten. Ich kenne ihre Wirkung – sie haben mich getragen, als nichts anderes mehr möglich war. Sie gaben mir Stabilität, hielten mich am Leben. Und doch dämpfen sie auch jene mutige, kreative Macherin in mir, die über Grenzen hinweg ihre Visionen verfolgt.
Es hat lange gebraucht, bis ich Freundschaft und Akzeptanz mit den unvorhersehbaren Höhen, Tiefen und gemischten Episoden schließen konnte. Wenn Anspannung und Erschöpfung Dimensionen erreichen, die nicht mehr in Worte zu fassen sind, will ich doch niemals aufgeben. Immer wieder versuche ich, mir ohne Chemie jene innere Balance zu geben, die ich brauche – und die unsere Gesellschaft zugleich erwartet.
Das Schreiben und das Reiten sind für mich tragende Pfeiler geworden. Sie schenken mir Orientierung, Halt und Leitplanken, ungeachtet aller Zustände. Sie geben mir Kraft – so wie die Menschen, die mich mit allen Facetten meiner inneren Welt lieben und unterstützen. Genau diese Facetten verleihen meinem Schreiben Tiefe. Weil ich mit allen Emotionen des Lebens gerungen habe, kann ich sie in meinen Szenen abrufen und ihnen Ausdruck verleihen.
Und ich möchte anderen damit Mut machen: In neurodivergenten Menschen steckt so viel Potenzial. Suche nach diesen Fähigkeiten – sie sind da, tief in dir. Daran glaube ich fest.
In Dankbarkeit für das Leben
Tami









